Knochenbrüche heilen
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Intelligente Implantate helfen
<p><strong>Eine neue Generation intelligenter Implantate soll direkt am Knochen &uuml;berwachen, ob Schienbeinbr&uuml;che heilen. Bei Bedarf sollen sie den Heilungsprozess &uuml;ber gezielte Bewegung direkt an der Bruchstelle aktiv anregen. Hieran arbeitet an der Universit&auml;t des Saarlandes ein Forschungsteam aus Medizin, Ingenieurwissenschaft und Informatik. Auf dem Weg zum Prototyp gibt es bereits zwei Patente.</strong></p>
© Oliver Dietze
<p>Jeder Unterschenkelbruch ist anders. Ob Motorradunfall oder Gr&auml;tsche beim Fu&szlig;ball &ndash; je nachdem, welche Kr&auml;fte auf den Knochen einwirkten, ist das Schadensbild verschieden: von gro&szlig;en Bruchst&uuml;cken bis hin zu kleinteiligen Knochentr&uuml;mmern. Entsprechend individuell verheilt auch jeder Bruch. K&ouml;nnte man im Zeitraffer dem Knochen beim Heilen zusehen, w&auml;ren an den Bruchstellen kontinuierliche Ver&auml;nderungen sichtbar, w&auml;hrend sich neues Knochengewebe bildet. Gleichwohl besteht die heute &uuml;bliche Behandlung darin, ein Implantat in Standardgr&ouml;&szlig;en mit den Knochenst&uuml;cken zu verschrauben; die aktuellen Implantate sind jedoch rein passiv. Nur in zeitlichen Abst&auml;nden und mit Verz&ouml;gerung zeigt sich in R&ouml;ntgenbildern, wie die Heilung verl&auml;uft.<br /> &nbsp;<br /> &bdquo;Dass der Knochen trotz Implantat nicht zusammenw&auml;chst, ist beim Schienbeinbruch eine relativ h&auml;ufige Komplikation. Von einhundert Patientinnen und Patienten trifft dies etwa vierzehn&ldquo;, sagt Professorin Bergita Ganse. &bdquo;Es ist heute schwierig, die Verz&ouml;gerung bei der Frakturheilung fr&uuml;hzeitig von au&szlig;en zu erkennen, um eingreifen zu k&ouml;nnen. Dies bedeutet f&uuml;r die Betroffenen langwierige Behandlung und f&uuml;r das Gesundheitssystem sehr hohe Kosten&ldquo;, erl&auml;utert die Unfallchirurgin und Inhaberin der Werner Siemens-Stiftungsprofessur f&uuml;r innovative Implantatentwicklung, die an der Universit&auml;t des Saarlandes das Projekt &bdquo;Smarte Implantate&ldquo; koordiniert. Im interdisziplin&auml;ren Team entwickeln hier Mediziner, Ingenieure und Informatiker ein f&uuml;r jeden Patienten und jede Patientin individuell auf den Knochen ma&szlig;geschneidertes Implantat, das ab der Operation direkt vor Ort im K&ouml;rper Informationen liefert, wie gut oder schlecht ein Bruch verheilt und auch bei Fehlbelastungen warnen kann. Und: Bei Bedarf soll das Implantat selbst die Knochenheilung aktiv f&ouml;rdern. Ein Prototyp des smarten Implantats soll 2025 vorliegen.<br /> &nbsp;<br /> Die Forscherinnen und Forscher kombinieren hierzu modernste Materialtechnik, k&uuml;nstliche Intelligenz und medizinisches Know-how. &bdquo;Wir wollen mit dieser neuen Klasse von Implantaten die Bruchsteifigkeit und Bruchverschiebung permanent direkt an der Bruchstelle &uuml;berwachen. Zeigen sich hierbei Probleme, soll das Implantat selbst aktiv gegensteuern, indem es sich bewegt oder versteift und zwar ohne, dass hierzu weitere Eingriffe n&ouml;tig sind&ldquo;, erkl&auml;rt Bergita Ganse. In zahlreichen Vorstudien hat das Forschungsteam der Universit&auml;t des Saarlandes unter anderem bereits herausgefunden, dass Frakturen schneller heilen, wenn die Bruchstelle durch Mikrobewegungen stimuliert wird.<br /> &nbsp;<br /> In vielen Bereichen betreten die Forscherinnen und Forscher hierbei Neuland. Um das Implantat so zu entwickeln, dass es die Heilung auf die Patienten zugeschnitten optimal unterst&uuml;tzt, m&uuml;ssen zahlreiche komplexe Details und Zusammenh&auml;nge gekl&auml;rt werden. &bdquo;Bislang ist etwa noch nicht definiert, welche Kr&auml;fte, Frequenzen, Kraftrichtungen, Zeitdauern und Zeitperioden oder andere Stimuli solche Implantate idealerweise liefern sollten, um das beste Heilungsergebnis zu erzielen&ldquo;, erl&auml;utert Bergita Ganse. Deshalb hat sie gemeinsam mit ihrem Forschungsteam das bislang bekannte Wissen aus diesem Themenkreis zusammengetragen, m&ouml;gliche Mechanismen aktiver Implantate er&ouml;rtert und aufgezeigt, wo weitere Forschung erforderlich ist, um ein aktives Implantat zu entwickeln, das die idealste Unterst&uuml;tzung bietet. Die Ergebnisse ver&ouml;ffentlichte das Team jetzt im Fachblatt Acta Biomaterialia. &bdquo;Es handelt sich um ein Grundlagenpaper, also die erste &Uuml;bersichtsarbeit &uuml;berhaupt, die zu diesem Thema bisher weltweit erschienen ist&ldquo;, erkl&auml;rt Bergita Ganse, die als Koordinatorin auch ihre Erfahrung als Weltraummedizinerin einbringt. Sie forschte in Projekten mit der europ&auml;ischen Weltraumorganisation ESA und der US-amerikanischen Raumfahrtbeh&ouml;rde NASA unter anderem daran, wie sich Knochen und Muskeln im All abbauen und half dabei, f&uuml;r Astronautinnen und Astronauten Trainingsmethoden zu entwickeln, um dies zu verhindern.<br /> &nbsp;<br /> Eine der grundlegenden Neuentwicklungen ist der Einsatz von Formged&auml;chtnisdr&auml;hten im Implantat. Im rechten Moment sollen sie die richtige &bdquo;Krankengymnastik&ldquo; &uuml;bernehmen. Hierzu bedarf es zahlreicher Daten und Informationen. Die haarfeinen Dr&auml;hte mit Formged&auml;chtnis bestehen aus Nickel-Titan. Hieran forschen an der Universit&auml;t des Saarlandes die Spezialistinnen und Spezialisten f&uuml;r intelligente Materialsysteme um Professor Stefan Seelecke. Eingebaut im Implantat sollen die Dr&auml;hte mithilfe elektrischer Signale zum einen als Sensor den Heilungsprozess sichtbar machen, zum anderen die Heilung durch Bewegung stimulieren.<br /> &nbsp;<br /> Die Formged&auml;chtnisdr&auml;hte nehmen ihre urspr&uuml;ngliche Form wieder an, wenn sie verformt oder gezogen werden, und k&ouml;nnen &auml;hnlich wie Muskeln an- und wieder entspannen. Auf kleinem Raum erreichen sie hohe Zugkraft; sie haben die h&ouml;chste Energiedichte aller bekannten Antriebsmechanismen. Betrieben werden sie mit elektrischem Strom. Jeder L&auml;nge der Dr&auml;hte l&auml;sst sich ein exakter Messwert des elektrischen Widerstands zuordnen. Sind die Dr&auml;hte im Implantat eingebaut, lassen sich selbst kleinste Ver&auml;nderungen im Frakturspalt in den Messwerten ablesen. Das macht diese k&uuml;nstlichen Muskeln zu Sensoren im Implantat. Zugleich entspricht eine Abfolge solcher Messwerte einem Bewegungsablauf. Mithilfe der Zahlenkolonnen und intelligenten Algorithmen lassen sich Bewegungsabl&auml;ufe vorausberechnen, programmieren und die Dr&auml;hte entsprechend automatisiert ansteuern. So k&ouml;nnte das Implantat sich ohne Weiteres direkt am Frakturspalt bewegen und die Heilung durch aktives Verk&uuml;rzen und Verl&auml;ngern, durch Aussenden von Impulsen, Wellen oder elektromagnetischen Feldern stimulieren.</p> <p><br /> Aktuell arbeiten die Forscherinnen und Forscher an der Feinjustierung und den Details, um diese Muskeln f&uuml;r den Einsatz im Implantat fit zu machen. Die Werner Siemens-Stiftung f&ouml;rdert diese Forschungen mit acht Millionen Euro.<br /> &nbsp;<br /> <strong>Originalpublikation </strong><br /> &bdquo;Concepts and clinical aspects of active implants for the treatment of bone fractures&ldquo; Acta Biomaterialia, 2022. Bergita Ganse, Marcel Orth, Michael Roland, Stefan Diebels Paul Motzki, Stefan Seelecke, Susanne-Marie Kirsch, Felix Welsch, Annchristin Andres, Kerstin Wickert, Benedikt Braun, Tim Pohlemann<br /> <a href="https://doi.org/10.1016/j.actbio.2022.05.001" style="color: rgb(14, 57, 114); font-weight: normal; text-decoration: underline;" target="_blank">https://doi.org/10.1016/j.actbio.2022.05.001</a><br /> &nbsp;</p>
Text:Claudia Ehrlich
Claudia Ehrlich
04.07.2022
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